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Zeitzeugengespräch am FDG

Einmal im Jahr versuchen die Geschichtslehrer Nadja Schäfer und Björn Schaal den Schülern der Oberstufe ein Zeitzeugengespräch zu ermöglichen. In diesem Jahr war Ingrid Oppermann zu Gast. Sie erzählte von ihrer Kindheit und ihrem berühmten Vater dem Physiker und Astronom Professor Doktor Wolfgang Gleissberg, der während des Nationalsozialismus in die Türkei emigrierte.

Exil in der Türkei – ein unbekanntes Kapitel deutsch-türkischer Geschichte

Zeitzeugengespräch mit Ingrid Oppermann am Friedrich-Dessauer-Gymnasium am 15.11.2016

Am Dienstag, den 15.11.2016, besuchte Ingrid Oppermann die Geschichtskurse von Frau Dr. Schäfer und Herrn Dr. Schaal in der Q3. 

Ingrid Oppermann erzählte uns von ihrer Kindheit und Jugend in Istanbul und erklärte uns, wie es dazu gekommen war, dass ihre Eltern in die Türkei emigriert waren. Dies gab uns Einblick in ein uns bisher vollkommen unbekanntes Kapitel der deutsch-türkischen Geschichte. Für das Friedich-Dessauer-Gymnasium war diese Begegnung besonders interessant, dass wir so auch über das Leben des Namensgebers unserer Schule, Friedrich Dessauer, Informationen erhielten, dessen Schicksal dem von Ingrid Oppermanns Vater ähnelt.

Ingrid Oppermanns Vater der Physiker und Astronom, Wolfgang Gleissberg, wurde 1933 aufgrund des Gesetzes „zur Wiederherstellung des deutschen Beamtentums“ entlassen, da er jüdische Großeltern hatte. Er hatte aber das große Glück sehr bald darauf die Möglichkeit zu erhalten, in der Türkei als Wissenschaftler weiterarbeiten zu können: 1933 nämlich hatte der türkische Staatschef Mustafa Kemal (ab 1934: Mustafa Kemal Atatürk) beschlossen, das türkische Universitätssystem zu modernisieren. Er lud Wissenschaftler aus aller Welt ein, Professuren und andere Forschungsstellen in Istanbul und Ankara zu übernehmen. Die massenhafte Entlassung jüdischer Wissenschaftler in Nazi-Deutschland führte dazu, dass vor allem diese sein Angebot annahmen. Anders als viele ihrer Kollegen, die in den USA, Großbritannien oder China als Fabrikarbeiter, Farmer oder Nachhilfelehrer ihren Lebensunterhalt im Exil finanzieren mussten, konnten diese Türkei-Emigranten in ihrem Beruf weiterarbeiten und genossen hohes Ansehen unter ihren Mitbürgern. Auch Friedrich Dessauer, dessen Namen unsere Schule trägt, ist damals in die Türkei ins Exil gegangen.

Die in der Schweiz gegründete „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ ermöglichte auch Ingrid Oppermanns Vater die Auswanderung in die Türkei und vermittelte ihm eine Stelle am Institut für Astronomie in Istanbul. Einige seiner Verwandten aber, die Deutschland nicht mehr verlassen konnten, wurden in Konzentrationslagern ermordet. Sein Bruder floh nach England und die Mutter überlebte, in einem Kloster in Breslau versteckt.

Wolfgang Gleissberg heiratete 1934; seine Frau war ihm aus Deutschland gefolgt; 1938 wurde seine Tochter Ingrid geboren. Ingrid Oppermann erzählte, dass die Eltern, die beide evangelisch waren, nicht kirchlich heiraten konnten, weil der Pfarrer ein Nationalsozialist war und einen Ariernachweis verlangte. Auf die Taufe ihrer Tochter wollten die Eltern jedoch nicht verzichten, so wurde Ingrid schließlich von einem anglikanischen  Pfarrer mit einer türkischen Bibelübersetzung evangelisch getauft, ihr Taufpate war Franzose. Dies war typisch für die globalisierte, multikulturelle Gesellschaft des damaligen Istanbul: Ingrid wuchs mit türkischen, französischen, englischen, armenischen und griechischen Mitschülern mitten in Istanbul auf, man besuchte sich gegenseitig, Nationalitäten spielten keine Rolle: „Bis heute macht es für mich keinen Unterschied, zu welcher Kirche jemand geht oder welche Sprache er spricht“, sagte sie. Sie hat als Kind beide Sprachen gut sprechen gelernt, sie fühlt sich in beiden Ländern zuhause und reist heute noch regelmäßig in die Türkei. Ihre Tochter hat diese Offenheit der Eltern und Großeltern übernommen und lebt heute, nach Reisen durch ganz Europa in Rumänien.

Die Schülerinnen und Schüler stellten viele Fragen. Sie interessierte, wie Frau Oppermann und ihre Eltern die Rückkehr nach Deutschland empfanden, wie sie den in Deutschland lebenden Menschen begegnen konnten, nachdem dort solche Verbrechen an ihren Verwandten begangen worden waren. Frau Oppermann machte deutlich, dass sie und ihre Eltern sowohl in der Türkei als auch später in Deutschland sowohl Nazis und Nicht-Nazis begegnet wären; sie hätten aber immer die Menschen als einzelne Menschen betrachtetet und gewusst, dass nicht alle Deutschen Verbrecher waren. So hatten sie in der Türkei keinen Kontakt zu den dort lebenden Nationalsozialisten gehabt hatten, sondern mit den anderen Deutschen in Istanbul verkehrt – ebenso hätten sie es später in Deutschland gehalten.

Das Zeitzeugengespräch wurde vom dem Projekt jüdisches Leben in Frankfurt mit finanzieller Unterstützung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung organisiert. 

 

Einen weiteren ausführlichen Bericht finden Sie hier in der Frankfurter Rundschau (vom 15.11.2016).